Der Professor als Coach

Interview mit dem Experten für Supply Chain Management 4.0 Prof. Dr. Helmut Wannenwetsch

Die Corona-Pandemie hat im ersten Lockdown gezeigt, wie knapp Lieferketten kalkuliert sind, wie passgenau manche Ware produziert wird, um kontinuierlich lieferbar zu sein – und wie schnell es geht, dass bei einer plötzlich erhöhten Anfrage Supermarktregale leer stehen. Was den Verbraucher*innen im Handel geboten wird, ist Ergebnis zahlreicher ineinandergreifender Rädchen und Abhängigkeiten. Bestellt man etwas online, wird mit einem Knopfdruck ein hochkomplexer Prozess in Gang gesetzt, der eine Anlieferung nur wenige Stunden oder Tage später ermöglicht. Fasziniert von dem Potenzial und der Bedeutung der Logistik für den Alltag lehrt Prof. Dr. Helmut Wannenwetsch seit 1996 an der DHBW Mannheim im Studiengang BWL - Industrie – einem der ersten dualen Studiengänge überhaupt. Inhaltlich konzentriert er sich auf die Fachgebiete Einkauf, Logistik, Materialwirtschaft und Produktion und ist Autor zahlreicher Erfolgstitel wie zum Beispiel "Integrierte Materialwirtschaft, Logistik, Beschaffung und Produktion. Supply Chain im Zeitalter der Digitalisierung", das er nun bereits in der 6. Auflage veröffentlicht hat.

Herr Prof. Dr. Wannenwetsch, Ihr jüngst überarbeitetes Buch ist schon in der 6. Auflage erschienen und gehört zu den meistverkauften Titeln im Springer Verlag. Für die Neuauflage haben Sie auch neue Inhalte hinzugefügt – das ist bei so einem dynamischen Thema sicher nicht verwunderlich, oder?

Dass mein Lehrbuch über Supply Chain Management 4.0 so erfolgreich ist, freut mich natürlich außerordentlich. Es behandelt das gesamte Spektrum der Supply Chain von Einkauf, Logistik, Materialwirtschaft und Produktion. In der 6. Auflage wurden Themen wie Industrie 4.0, Produktion 4.0, Einkauf 4.0 und Servicelogistik 4.0 neu aufgenommen. Dies ist ein Bereich, der auch aus technologischer Sicht sehr spannend ist und in den letzten Jahren – auch durch Corona – einen enormen Schub erfahren hat. Dementsprechend habe ich Inhalte in dem Buch angepasst, die für Studierende, Lehrende und Praktiker*innen gleichermaßen interessant sind.

Was mich an der Logistik begeistert und was auch sehr vorteilhaft für meine Lehre und letztendlich auch für das Buch ist: Man kann die Inhalte sehr anschaulich darstellen. Das Buch beinhaltet viele Beispiele aus der unternehmerischen Praxis und zahlreiche Bilder, welche die Prozesse, wie z. B. Warenströme, visualisieren. Hinzukommt aber auch die Tatsache, dass immer mehr Menschen in der Logistikbranche arbeiten und daher die Zielgruppe des Titels wächst. Der Logistikzweig ist derzeit auf Platz 3 bei den größten Branchen in Deutschland. So ein florierendes globales Netzwerk braucht Fachkräfte, die Bereiche Einkauf, Logistik und Rechnungswesen haben sich als die sichersten erwiesen.

In fast allen Industriezweigen gehört das Supply Chain Management zu den Schlüsseldisziplinen. Geben Sie uns einen Einblick in seine Komplexität?

Nehmen wir den Automobilsektor. Hier werden bei der Produktion von Fahrzeugen im Bereich Just-in-time- bzw. Just-in-sequence-Produktion Teile oft erst wenige Stunden vor Einbau in das Herstellerwerk angeliefert. Ein Pkw besteht aus über 10.000 Einzelteilen mit über 1 Million verschiedener Varianten wie Motor, Farbe, Sitzen und wird zu ca. 70 Prozent von oft mehreren tausend Lieferanten in über 80 Ländern hergestellt. Auch hier ist eine reibungslose Supply Chain essentiell. 

Sie haben vor Ihrem Start an der DHBW Mannheim in der logistischen Programmführung bei Daimler-Benz Aerospace, also in der Luft- und Raumfahrtindustrie, gearbeitet. Mittlerweile sind Sie schon über 25 Jahre unserer Hochschule. Was gefällt Ihnen an der DHBW Mannheim und am Studiengang BWL - Industrie so gut, dass Sie beiden so lange die Treue halten?

Was ich sehr mag, ist der persönliche Kontakt zu den Studierenden, der durch die kleinen Kursgrößen begünstigt wird. Man kann seine Erfahrung und sein Wissen sehr gut weitergeben und auf die einzelnen Studierenden eingehen. Das finde ich traumhaft! Jede*r Studierende*r ist ein Individuum, aber alle bringen eine hohe Motivation und auch Qualifikation mit. Das wird durch die Auswahlverfahren in den Partnerunternehmen gefördert. Außerdem genieße ich den starken Anwendungsbezug und die Anschaulichkeit im Studiengang BWL - Industrie, weshalb ich nie zu einem anderen wechseln wollte.

Hat sich die Lehre oder haben sich die Studierenden seit Ihren Anfängen 1996 an der damaligen Berufsakademie verändert?

Im Vergleich zu früher gehört es heute fast zum Normalfall, dass Studierende vor ihrem Studium schon Auslanderfahrungen gesammelt und sehr gute Fremdsprachenkenntnisse haben. Außerdem nutzen sie sehr gern die Möglichkeiten für einen Auslandsaufenthalt während des Studiums, z. B. in einer Praxisphase bei einer ausländischen Niederlassung ihrer Partnerfirma. Diese Erfahrungen bringen sie in den Theoriephasen ein und bereichern sie. Weiterhin sind die Studierenden heute viel besser ausgerüstet und professioneller im Umgang mit digitalen Hilfsmitteln in der Lehre. Sie sind ehrgeizig und motiviert, was ihre Weiterbildung nach dem Bachelor betrifft. Die Absolvent*innen sind in Bezug auf ihren beruflichen Werdegang und entsprechend der Anforderungen der Unternehmen sehr flexibel. Durch eine gewisse Offenheit unterschiedlichen Tätigkeiten gegenüber haben sie gute Voraussetzungen, um in ihrem Unternehmen und auf dem Arbeitsmarkt zu bestehen. Eine weitere positive Entwicklung: Der Frauenanteil in meinem Fachgebiet ist gestiegen und liegt, je nach Semester, teilweise bei über 60 Prozent.

Haben Sie Kontakt mit Ihren ehemaligen Studierenden?

Ja, über unterschiedliche Kanäle komme ich mit Alumni zusammen. Teilweise kontaktieren sie mich direkt über soziale Netzwerke, wenn sie z. B. Fragen zu fachlichen Themen, Weiterbildungen oder beruflicher Karriere haben. Das ist ein tolles Kompliment! So können wir fortführen, was wir in der DHBW begonnen haben: Das gemeinsame Ausschöpfen ihres Potenzials. Das ist auch eine Sache, die mich bei meinem Beruf an der DHBW Mannheim erfüllt – es geht nicht nur um Wissensvermittlung, sondern auch um Lebens- und Berufsplanung. Ich werde zum Coach und kann meine Studierenden über die Lehrinhalte hinaus unterstützen. Ein weiterer Weg, um Kontakt zu halten, sind Seminare, die ich für Unternehmen halte. Auch dort finden sich einige meiner Alumni. Und ich freue mich sehr, dass mich zwei meiner Alumni beim Schreibprozess der Neuauflage unterstützt haben.

Haben sich seit dem Ausbruch der Corona-Pandemie die Themen und die Art der Lehre verändert?

In der Praxis wurde durch Corona sichtbar, dass die Supply Chains, die Versorgungsketten, nicht immer in der Lage waren, die großen Nachfrageschwankungen auszugleichen. Dies führte zu Lieferengpässen wie z. B. im Handel, in der Baubranche oder der Automobilindustrie. Daher ist das Risikomanagement ein gefragtes Thema. Das Kapitel Risikomanagement im Buch beschäftigt sich speziell mit Ursachen und Vermeidung dieser existenziellen Herausforderungen der Unternehmen. Parallel dazu hat natürlich weiterhin die Digitalisierung einen hohen Stellenwert – die Krise hat z. B. die elektronische Beschaffung von Waren stark angetrieben. In Zeiten der Online-Lehre hat den Studierenden und mir der direkte Austausch und das gegenseitige persönliche Kennenlernen sehr gefehlt, an die anonymere digitale Lehre konnte ich mich nur schwer gewöhnen. Aber wir haben es dennoch geschafft, das Niveau hoch zu halten, und die Noten haben sich kaum verändert – was noch einmal die Motivation unserer Studierenden, auch in Krisenzeiten, unterstreicht.

Vielen Dank, Herr Prof. Dr. Wannenwetsch, und alles Gute!